Durch das gesteigerte Interesse der Wissenschaft und der Öffentlichkeit an dem Themenbereich der Autismus-Spektrum-Störung werden Ärzte häufiger mit diagnostischen Fragestellungen von ASS im Erwachsenenalter konfrontiert. Zudem liegt das Verhältnis zwischen diagnostizierten und nicht-diagnostizierten Autismus-Spektrum-Störungen im Grundschulalter bei ca. 3:2. Auf drei diagnostizierte Fälle kommen also zwei ausbleibende Diagnosen, sodass einige Fälle erst im Erwachsenenalter erkannt werden. Anders als im Bereich der Frühdiagnostik gestaltet sich die Diagnosestellung im Erwachsenenalter ungleich schwieriger. Die Vielzahl an Symptomen, die hinter einer Autismus-Spektrum-Störung stecken können, müssen im Alltag der klinischen Diagnostik von anderen psychischen Erkrankungen abgegrenzt werden. Aktuell kann eine Diagnose mangels medizinischer Testverfahren nicht abgesichert werden. Daher ist ein systematisch durchgeführtes, mehrstufiges Diagnoseverfahren sinnvoll, um Fehldiagnosen möglichst zu vermeiden. Die einzelnen Stufen bestehen aus einem ersten Screening im Rahmen einer hausärztlichen Untersuchung, einer Überprüfung des Verdachts durch einen Facharzt sowie einer umfassenden Evaluation in einer Spezialambulanz.
Feststellung des Entwicklungsstandes
Die Diagnosestellung im Erwachsenenalter ist nicht auf den Ist-Zustand reduziert, sondern bezieht insbesondere Symptome einer Autismus-Spektrum-Störung aus dem Kindesalter ein. Eine rückwirkende
Erfassung von Beobachtungen ist daher wesentlich und unerlässlich für die Erwachsenendiagnostik. So können vergangene Erfahrungen aus Kinderbetreuungseinrichtungen ebenso hilfreich sein wie
schriftliche Beurteilungen des Sozialverhaltens, wie sie häufig auf Grundschulzeugnissen zu finden sind.
Noch neu ist ein Testinstrument, das speziell für eine Diagnosestellung bei Erwachsenen entwickelt wurde: Das Adult Asperger Assessment (AAA). Dieses Verfahren erfasst Leistungen aus vier
Kernsektionen, die ihrerseits einzelne Symptome zu Gruppen zusammenfassen. Die vier Kernsektionen sind:
Zudem kommen sogenannten standardisierten Selbstbeurteilungsfragebögen besondere Rollen zu, die Aufschluss über Begabungen und Interessen geben können. Bei der Anwendung der Selbstbeurteilungsinstrumente wird zusätzlich zwischen Systematisierungsleistungen und Empathisierungsleistungen unterschieden. Während unter den Empathisierungsleistungen das Hineinversetzen in Gedanken und Emotionen anderer Personen zu verstehen ist, umfassen Systematisierungsleistungen das Verständnis von regelgeprägten (beispielsweise technischen oder computertechnischen) Vorgängen. Erwachsene mit Autismus-Spektrum-Störung zeigen oftmals hohe Systematisierungsleistungen bei geringen Empathisierungsleistungen.
Wie in frühdiagnostischen Verfahren, sind Beobachtungen von Familienangehörigen, Bekannten oder Betreuern wertvoll für die Erwachsenendiagnostik. In Interviews werden Beurteilungen zum
Entwicklungsstand eingeholt, die weitere Bausteine in einem systematischen Diagnoseverfahren darstellen.
Komorbiditäten und Differentialdiagnosen
Bei der Diagnose im Erwachsenenalter sind autistische Kernsymptome und Begleiterscheinungen stets mit Symptomen anderer psychischer Erkrankungen abzugleichen. Diese sogenannte
Differentialdiagnostik umfasst im Rahmen der Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung häufig folgende Differentialdiagnosen:
Häufige Komorbiditäten umfassen im Erwachsenenalter oftmals:
Diese Überschneidungen der psychiatrischen Komorbiditäten mit den Differentialdiagnosen machen das Diagnoseverfahren im Erwachsenenalter zeitaufwändig und vielschichtig. Die Beurteilung der Testergebnisse ist dabei stets im Gesamtkontext psychiatrischer und psychologischer Untersuchungen zu betrachten. Parallel zum Diagnoseverfahren sollten im Idealfall psychosoziale Beratungen durchgeführt und therapeutische Angebote erörtert werden.